Liebe Freunde, ich bin entsetzt.
Nein, nicht wegen korrupter Politiker oder profitgieriger Unternehmen oder Diktatoren mit Größenwahn.
Nein. Ich bin entsetzt über ganz einfache Menschen (ich vermeide die Floskel „wie du und ich“ aus gutem Grund).
Zur Geschichte:
Da schreibt eine regionale Tageszeitung über die Schwierigkeiten, die Haftentlassene neuerdings bei der Suche nach einer Wohnung haben.
Erst kürzlich war das Dorf Insel in der Altmark in die Schlagzeilen geraten, weil sich dort zwei ehemalige Sexualstraftäter nach verbüßter Strafe und langjähriger Sicherungsverwahrung niedergelassen hatten und einen Proteststurm der Bürgerschaft auslösten.
Möglicherweise noch unter dem Eindruck dieses Ereignisses stehend, weigern sich nun wohl Wohnungsgesellschaften, ehemaligen Häftlingen eine Wohnung zu vermieten.
Dieser Zusammenhang wird jedenfalls suggeriert.
Wenn auch allein diese Tatsache mich schon befremdet, so entsetzen mich jedoch vielmehr die Kommentare zu oben beschriebenem Artikel. Um den Tenor zusammenzufassen: „selbst schuld“ und „soll doch zusehen…“. ---
Diese Reaktionen zeigen mir einmal mehr, wie eiskalt unsere Gesellschaft geworden ist. Und ich beginne, grundlegende Definitionen in Frage zu stellen.
Da habe ich vor einigen Monaten mit einem lieben Freund um die richtigen Formulierungen für eine Charta der Menschenpflichten gerungen. Menschenpflichten als Gegengewicht zu den Menschenrechten, die wir mitunter einklagen, ohne uns der aus diesen Rechten resultierenden Verpflichtungen bewusst zu sein. Nur allzu gern möchten wir für uns Rechte in Anspruch nehmen, die wir anderen Personen (aus welchen Gründen auch immer) absprechen.
Ja sicher, die Menschenrechte, von denen ich hier rede, stehen auf geduldigem Papier und werden just von denen, die sie uns so generös zu garantieren geruhen, mit Füßen getreten. Aber darum geht es mir heute nicht.
Es geht mir nicht um Rechte oder Pflichten; es geht mir um den Begriff Mensch. Oder eher: Menschlichkeit.
Viele brillante Köpfe haben diesen Begriff definiert. Und viele gerissene Köpfe haben ihn ausgehöhlt.
Aber wie definieren wir nicht ganz so brillanten Köpfe ‚Menschlichkeit‘? – Zeigt sich diese Definition nicht in unserem täglichen Handeln, in unseren Reden und eben auch in unseren Kommentaren?
Als Kind habe ich gelernt, dass sich eine Gesellschaft daran messen lässt, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Und dass sich ein jeder daran messen lassen muss, wie er mit Schwächeren umgeht.
Wenn dem so ist, dann gnade uns Gott!
Und dennoch bin ich nicht geneigt, diesen Grundsatz in Frage zu stellen.
Wie also gehen wir mit unseren Schwächsten um und wer sind sie überhaupt?
Als „schwach“ möchte ich Mitmenschen bezeichnen, die ihre Interessen nicht oder nicht vollständig aus eigener Kraft vertreten können. Aus welchem Grund auch immer.
Also definiere ich jetzt mal Kinder, Alte, Kranke, Behinderte und Gestrauchelte als die Schwachen der Gesellschaft. Mancher möchte meinen, ich sollte hier auch die Armen aufführen. Doch dann muss ich auch Armut definieren. Das lasse ich lieber.
Wie gehen wir mit unseren Kindern um?
Ich setze treusorgende und liebende Eltern voraus.
Da billigen wir unseren Kindern den Anspruch auf einen Kindergartenplatz zu, den wir nicht erfüllen können. Weil wir nicht genügend Kindergärten haben und die vorhandenen Kindergärten mit der dünnstmöglichen Personaldecke ausstatten. Mit dieser haarsträubenden Situation nehmen wir ihren Eltern oft genug die Existenzgrundlage, weil ein Elternteil dem Vollzeitjob nicht mehr nachgehen kann.
Dann schicken wir unsere Kinder in die Schule, in der sie neben Rechnen und Schreiben auch lernen müssen, mit Stress umzugehen. Auch hier sorgen wir wieder für „optimale“ Verhältnisse: zu wenig Lehrer für zu große Klassen. Wissen wird in die Köpfe gepresst; Verstehen und Anwendbarkeit – Nebensache. So viel Mühe sich der einzelne Lehrer auch gibt, die Umstände (oder eher Zustände) machen manchen Erfolg zunichte. Wer hier auf der Strecke bleibt, hat verloren – für’s ganze Leben.
Und dann... ist die Kindheit vorbei. – Mensch!
Wie gehen wir mit unseren Alten um?
Sie haben ein Leben lang gearbeitet, Kinder geboren und erzogen, vielen Menschen mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung geholfen. Nun sind sie alt und werden von uns mit einem Hungerlohn abgespeist, der sich Rente nennt. Dabei gehen wir großzügig davon aus, dass sich ein Rentenalter pauschal für jeden Bürger festlegen lässt. Für den Bergmann genauso wie für den Kopfarbeiter.
Viele von ihnen schicken wir schon zeitig in den „Ruhestand“; unser „Sozialstaat“ macht’s möglich. Warum sollten wir denn warten, bis der Alte von allein aufhört? Alte Maschinen werden doch auch verschrottet...
Nennen wir das Kind doch beim Namen: wir machen unsere Alten zu Bettlern! Wir lassen sie um Arbeit betteln oder um den Ruhestand, um eine Aufgabe oder um Fürsorge. Die Familien sind schon lange kein Hort der Sicherheit mehr für unsere Alten. Die Kinder müssen doch arbeiten, so sie Arbeit haben.
Also gibt es Pflegeheime für die Alten, die anstrengend und krank werden; Verwahranstalten, die genauso großzügig mit Personal versorgt sind wie unsere Kindergärten. Dort „dürfen“ sie dann fremdbestimmt ihren Lebensabend verbringen. – Mensch!
Wie gehen wir mit unseren Kranken um?
Der Arzt wiegt sein weises Haupt und schreibt Rezept und Krankenschein. Die Kollegen greinen und grollen: „Wer soll die ganze Arbeit machen? Der macht sich zu Hause eine schöne Zeit.“ Der Chef jammert, ihm fehle Personal.
Das Krankenhaus und die Krankenkasse fangen an zu rechnen. –
Krankheit wird zum Kalkül, die Kranken zum Wirtschafts- oder Kostenfaktor. Es wird repariert, aber nicht geheilt.
So ist unser Gesundheitswesen lange schon zum Krankheitsunwesen verkommen. Jeder Beteiligte trachtet nach seinem größtmöglichen Profit – der kranke Mensch wird zum Spielball. – Mensch!
Wie gehen wir mit unseren Behinderten um?
Habt ihr euch schon einmal in einen Rollstuhl gesetzt und versucht, in eurem Ort alle Behörden, öffentlichen Verkehrsmittel, Geschäfte, Restaurants oder Sehenswürdigkeiten zu besuchen? Habt ihr dasselbe einmal mit einem Blindenführhund versucht? - Mensch!
Wie gehen wir mit unseren Gestrauchelten um?
Jawohl, sie haben eine Straftat begangen. Dafür sind sie vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Und haben ihre Strafe verbüßt. Wie oft darf man für ein einziges Delikt verurteilt werden? Wird uns mit dem Urteil eines Gerichts unser Bürgerrecht aberkannt? Sind wir dann keine Menschen mehr? – Ja, einige Straftaten machen uns mehr Angst als andere. Mit Sicherheit ist es ein mulmiges Gefühl, einen Straftäter in der Nähe zu wissen. Doch welcher unserer Nachbarn ist noch nicht erwischt worden? Welcher von ihnen wird morgen zum Straftäter?
Was ist unser Rechtssystem wert, wenn wir die Buße der Straftäter nicht mehr anerkennen und ihnen keine Möglichkeit mehr lassen, sich der Gesellschaft nützlich zu erweisen? Sollten wir vielleicht die Lynchjustiz wieder gestatten?
Fragen wir überhaupt nach den Menschen hinter den Aktenzeichen? Fragen wir nach ihren Schicksalen? – Mensch!
Wenn also im Umgang einer Gesellschaft mit ihren Schwächsten ihre Menschlichkeit erkennbar wird, dann haben wir entweder einen sehr niedrigen Grad an Menschlichkeit erreicht in unserer vom Kapital beherrschten Welt oder wir müssen den Begriff Menschlichkeit neu definieren.
Ich habe bewusst sehr häufig das Pronomen „wir“ verwendet. Auch wenn wir oft versucht sind, „die da oben“ oder „die anderen“ zu sagen.
Wann machen wir uns klar, dass WIR ALLE es sind, die diese Gesellschaft formen? Dass „die da oben“ ohne unser Schweigen nicht solche Regeln aufstellen könnten, dass unsere Schwächsten ohne unsere Ignoranz nicht so hilflos wären, dass ohne unser Zutun oder Unterlassen die Welt nicht so wäre, wie sie ist?
Wann wird uns klar, dass wir alle Kinder sind oder waren? Dass wir Alte sind oder werden? Dass wir krank oder behindert werden können? Und dass wir straucheln können?
„Urteile nie über einen anderen Menschen, bevor du nicht 1000 Meilen in seinen Mokassins gegangen bist.“ – Mensch!
Wie denkt ihr über dieses Thema? Schreibt doch bitte einen Kommentar dazu.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen